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Jenseits der eigenen Hände

Von Neugeborenen tropft es. Sie sind noch nass von der Ewigkeit. Auch Lene trug diese Spuren. Allerdings wurde sie in eine Fleischersippe geboren, wo die Menschen im Inneren Gefrierfächer tragen. Deshalb sah kein Mensch das Nass am frischen Kind.

Hinten in der Halle steht ein Gitterbett mit Inhalt und es riecht nach Reh. Das große Ohr gehört zum Kind, das man nicht sieht, mit dem offenen Mund, den man nicht sieht. Rehkraft legt sich über den Säugling. Rehkraft ist still, hat große Augen. Grazil, aus feinem Gespinst wie Federn, leicht im weiten Sprung, gewebt aus Waldnadeln und Zapfen. Sehen kann man Rehkraft nie. Nur manchmal trifft man auf so ein Reh, das da steht mitten im Feld und schaut. Das Reh spricht zum Kind mit dem großen Ohr: »Alles, was ich habe, bin ich selbst. Das schenke ich dir.« Das Neugeborene aber weiß nicht, was es mit dem Geschenk tun soll.

Montags, wie an jedem Arbeitstag schon um vier Uhr früh aufstehen. Die Fleischer schlüpften in die weißen Mäntel, in die Stiefel. Noch bevor die Sonne aufging, waren sie da, um das Vieh zu holen. Da weinte die Bäuerin. Beim Abladen brüllten, stampften, drängten sich die Tiere in die hintere Ecke am Laster. Mit Stöcken, mit Seilen, mit Schlagen. Ziehen und Hindreschen. Nur so torkelten sie von der Ladefläche. Lene war klein. Sah zu. Die Schweine, die Kühe. Vier Männer waren eben stärker. Heute war Schlachttag. Und einmal zu Ostern sogar zwei kleine Ziegen. Da weinte das Kind. Hinten am Haus dran, in der gefliesten Schlachthalle war der Ofen geheizt und kochendes Wasser dampfte im Becken.

Ein Schuss traf die Kuh am Kopf. Sie schwankte und sank betäubt zu Boden. Einer schnitt die Halsschlagader durch. Grell spritzte Rot und rann dickdampfend auf den Betonboden. Aus dieser Halle floss seit Generationen Blut die kleine Gasse hinunter und versickerte am Wegrand. In Männergesichtern, auf ihren Händen, am Schurz trockneten Blutspritzer.

www.bibliothekderprovinz.at

Herausgeber Richard Pils | Verlag Bibliothek der Provinz | Weitra 2008
21x15 | 130 Seiten |18 € | 30 sfr | ISBN 978-3-85252-771-0
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"Als ich das Buch zu lesen anfange überkommt mich bald ein starkes Gefühl von Liebe. Ich will sie dem kleinen Mädchen Lene geben, von der so ergreifend erzählt wird, und die nichts dergleichen bekommt. Ihre Mutter schaut nicht nach ihr, stellt sie irgendwo im Garten ab, der Mutter ist es auch völlig wurst, dass sie aus dem Kinderwagen fällt, irgendjemand anderes legt sie wieder hinein, da hat sie Glück gehabt, sonst hätte der Hund sie gefressen. Starke Bilder beschreiben die Kälte, die da um die kleine Lene ist, sie wird nicht berührt, nicht sanft eingecremt, nicht gewiegt, nicht gehalten. Dabei ist ihre Sehnsucht danach so groß. Ich würde gerne ausgleichen und das süße kleine Wesen mit zarten Gesten umfangen, ihr Wärme und Schutz geben.

Ja, ja, ich weiß, das dürfte schwer möglich sein bei einer Romanfigur, deshalb lese ich erregt weiter, ich hoffe auf Zeichen und Begegnungen in der Umgebung des Kindes, die das in meinem Sinne tun. Und siehe da, schon tauchen die ersten auf. Der kleinen Lene nähern sich Tiere, Gräser und Moos, mit denen kann sie sich verständigen, die sind ihr nah. Außerdem wird sie von ihren Ahnen bestärkt, die flüstern ihr zu, sie sei mit Margeriten über den Augen geboren, etwas ganz besonderes! Mutter und Vater materialistisch und hart sehen es nicht. Es wäre ihnen sowieso nur lästig.

Spannung kommt auf. Schafft es ein Menschenkind in dieser eiskalten Umwelt zu überleben, und wenn ja, wie und was ist dazu nötig? Ein Überlebensmittel ist ganz gewiss die Fantasie, die Magie und die Poesie (die eben auch den Roman zu einem lyrischen macht ). Die Poesie schlummert also schon in dem Kind, das spürt man einfach. Und doch bangt frau. Frau bangt auch als sie dann zur Heranwachsenden wird und sich ihre Überlebenswelt aus dem Quellekatalog herausschneiden und neu zusammenkleben muß. Lene verschlingt Bücher, auch solche für junge Mädchen, die ihr klar machen, wie sie sich zu geben hat: "...ein Buch, das die Mädchenwelt in geordneten Schächtelchen beschrieb: dein Körper, deine Kleidung, dein Zimmer, deine Gäste, deine Geschenke, deine Manieren, deine Hobbys, dein Beruf, deine Briefe, deine Ferien und schließlich dein Leben zu zweit."

Das Leben zu zweit, das strebt sie dann auch an. Vorher jedoch hat sie Eingebungen und Begegnungen, die ihr helfen sich zu rüsten, und die obendrein uns, die LeserIn, nähren und erfreuen. "Sie legen jedes Neugeborene in einen milchigweißen, elfenbeinfarbig schimmernden Kubus, der beim Älterwerden unsichtbar wird. Er umschließt flauschfedrig, leicht, wie eine Wolke alle frischen Kinder. Wohlig sinken sie in diese Würfel, wie in warmes Wasser, ohne dabei nass zu werden. Ihre Körper mollig umschlossen. Die Alten halten diese Kuben so lange an die kleinen Körper, bis die Kinder fühlen, dass sie in etwas Größeres eingebunden sind. Später dann werden sie den Kubus vergessen. Nur ihre Körper werden sich erinnern." Immerhin weiß Lene vom Kubus, auch wenn sie ihn nicht von Anbeginn an mitbekommen hat. Aber sie repariert, versucht, den Schaden selbst zu beheben.
Eine junge Frau geworden, sollen ihr auch die Liebschaften helfen zu reparieren. Ihre Männer sind allesamt vom Kontinent Afrika. Ausgerechnet von dort, wo Kinder besonders willkommen geheißen werden, wo Kinder am Körper der Mutter groß werden, und wo die Alten sich freuen wenn das Kind sich freut. Von dort, wo Geben und Schenken den höchsten Wert hat. Lene braucht das Fremde, die Ferne. Einer, mit dem sie es versuchte, stammt aus einer Oase. "In der Nähe der Stadt sprudelte Wasser aus einer Quelle. Dort wuchsen Bäume, deren Äste sich schwer von der Last des Obstes in Reichweite von Kinderhänden neigten. Kirschen hingen über saftigem Hellgrün und süße Marillen wanderten direkt in den Mund." Von dort stammt ihr Liebhaber, der jedoch gar nicht paradiesisch drauf ist, bei dem  s i e  die Gebende ist, und noch tragischer: was sie ihm gibt, fließt ihm aus den Händen und er fühlt sich elend.

Später fasst dann ihre anfangs noch rätselhafte Helferin Yolanda es in klare Worte:
"... da war eine ganz Dumme, wird man erzählen, die dachte, wenn sie gäbe, würde sie aufgefangen. Niemals darf eine Frau nur geben. Eine Frau entwickelt das Beste in sich selbst, wenn sie sich auf sich selbst konzentriert."
Lene, die junge Frau versucht es mit diesem und jenem, einer wirft sogar ihren Ehering aus dem Fenster. Und dann trifft sie auf Watiki, auch er hat schwarz-glitzernde Haut, aber das ist vielleicht gar nicht so wichtig. Auf jeden Fall ist er jetzt der Schenkende und sie nimmt an. "Dorthin, wo der Himmel sich zum dunkelsten Nachtblau verfärbt. Klar und kühl, mit Millionen von Lichtern, entrollte ihr Geliebter über ihr das Firmament. Oben, am höchsten Punkt strahlte gleißend weiß eine Helligkeit, die pulsierend jede Faser des Körpers erfasste. Sterne küssten ihr dort Haut und Augen. ... Lene war in seine Haut gefallen und zuhause angekommen." Dass auch dieser Mann, was die Beziehung betrifft, nicht besonders verlässlich ist, hätte jede Frau vorhersagen können, aber auch das spielt keine Rolle mehr. Lene trifft dann auf Yolanda, dort im schwarzen Kontinent. Sie ist die schwarze, alte Weise, sie läßt sie wissen:
"Eine Beziehung ist nie mehr als das Tragen eines Kleides. Man fühlt sich bequem oder unbequem, kann es tragen oder ausziehen. Niemals ist eine Liebesverbindung mehr. Kargheit und Mangel sind alt und von früher. Was dir fehlt, kann er nicht geben. Du selbst wirst das Rätsel lösen."
Es ist Yolanda, die für Lene die Arme ausbreitet, und in ihre geöffnete Hand kann sie sich hineinlegen wie in eine riesige Hängematte.

Was besonders bezaubernd ist in diesem Roman: nachdem Lene sich also nun nach und nach selbst reparierte, oder besser gesagt, geheilt hat, verspricht sie im Epilog folgendes: "... was sie dieser (der heiligen Agnes) allerdings gleich tun wird, ist das Erbauen einer Anlage, die in der Größe ihrem Stift in nichts nachstehen wird. Frauen, die ihren Kopf durchsetzten, die alles wollen, werden drinnen leben, lernen und die Weibskraft von früher nützen. Feierlich werden sie durch Hallen schreiten und die Risse der Menschheitsgeschichte mit Moltofill verkitten. Sie werden Spalten schließen, Furchen verspachteln und von Grund auf neu bauen ..."
Oh je, habe ich jetzt schon zu viel verraten? Ich hoffe nicht, eher hoffe ich, dass etwas übergesprungen ist von dem, was ich beim Lesen empfunden habe, nämlich dabei gewesen zu sein, bei einem großen Gesang.

Uschi Madeisky, Filmproduzentin
In: www.wolfsmutter.com 31.07.2007

Andere Rezensionen

  • dieStandard.at/dabu, 01.08.2008